„Du bist nicht gut genug“

Nach Bewältigung dieser Horror-Infektions-Quarantäne-Monate fühle ich mich heute zum ersten Mal wieder lebendig. Die Sonne scheint. Der Kuchen von gestern ist heute noch besser und wartet auf Kaffee-und-Kuchen-Zeit für uns vier. Ich konnte duschen (mit Notbehelf, weil der Kleine nicht ertragen konnte, dass ich mir die Haare freiwillig nass mache), aber ich bin sauber und sitze stilvoll im Bademantel am umgeräumten Schreibtisch, habe meinen kleinen Blumenstrauß von Donnerstag im Blick und muss nicht kochen, weil: Reste vom Wochenende! Yeah!

Selbstverständlich nutze ich den nun entstandenen Freiraum und lese wieder was. Hah! Das Umstandslos-Blog hat einen neuen Beitrag: Das diskriminierte Kind. Und ich lese und lese und werde wieder sauer. Das aktuelle Problem trägt das Label „Adultismus“. Ein neuer -ismus für unsere endlose Reihe an Beschreibungen verschiedenster Beziehungen verschiedenster Menschen verschiedenster Hintergründe zueinander. Es geht darum, dass Kinder im Falle von praktiziertem Adultismus nicht als vollwertige Menschen ernstgenommen werden. Sie werden weggetragen, weggezogen, überhört, übergangen, übervorteilt und lächerlich gemacht, indem sie mit „ach wie niedlich“ betitelt werden.

Aha.

Das ist ein generationelles Problem. So sollten wir nicht handeln, weil die Kinder dadurch Autoritätshörigkeit und unnötige Stereotype lernen. Außerdem werden wir in diesem Kontext als Mamas gleich mit diskriminiert, wenn unser Kind nicht schnell genug krabbelt, läuft, spricht und wir dafür zur Rechenschaft gezogen werden, weil wir wohl nicht gut genug erzogen haben.

Aha.

(Denkpause)

Ich bin überzeugte Feministin. Schon sehr lange. Ich habe schon in den 90ern als Teenie Mädchen-und Frauenarbeit gemacht. Im Philosophiestudium wurde ich konsequent in den paar Ethik oder gar Feminismus-Seminaren angetroffen. Und auch jetzt noch lese ich mit Freude Artikel von feministischen Autorinnen und Autoren. Ich bin Sozialpädagogin (ein mit Feminismus gut zu vereinbarende Ausbildung). Ich bin Mama. Aber: Ich bin alles andere als überzeugt von der Sinnhaftigkeit unzähliger Festlegungen oder Definitionen für jede sich denkbare Konstellation. Ich denke, dass Diskriminierungen im Alltag eine Sauerei sind. Ich denke, dass da Labels drauf müssen, an denen wir diese Beziehungen und Handlungen packen und besprechen können. Ich sehe allerdings gar nicht ein, dass jetzt schon wieder von dieser Seite aus den Müttern an den Karren gefahren wird. Denn wer sind denn die Erwachsenen, die mit Kindern in der Öffentlichkeit als adultistisch wahrgenommen werden? Überwiegend Müttern will ich meinen!

Sicher brauche ich mir nicht mit ruhigem Herzen anschauen, wenn ein Kind von Gewalt bedroht wird, oder wenn es in einem unbeobachteten Moment sich selbst in Gefahr bringt. Aber jetzt muss ich mich auch noch erregen, wenn einem Kind ungefragt die Nase geputzt wird? Ernsthaft?

Aaaaaah…ich bin so froh um mein eigenes ausgeglichenes und gebildetes Umfeld, in dem die Kinder ohnehin an so vielem wie möglich teilhaben dürfen! Die Mamas, die ich kenne und erlebe, finden es alle absolut klasse, wenn das Kind Selbständigkeit zeigt. Die Mamas, die ich kenne und erlebe, haben aber alle einen sehr stressigen Alltag, in dem diese Übergriffigkeiten (Kind hinterherziehen, Kind ungefragt hochnehmen, Kind ungefragt die Nase putze, Kind etwas verbieten…) nicht mehr und nicht weniger sind als Abkürzungen, um nicht völlig zu versanden! Wer von uns kann denn für seine Kinder jeden Tag einen Alltag gestalten, in dem sie vorgeben, was wann geschieht? Wie soll das gehen? Bezahlt das irgendjemand? Haben wir alle für Kind 2 und Kind 3 noch zusätzliche Hilfskräfte zuhause, die  diese fachgerecht betreuen, während wir mit Kind 1 ausdiskutieren, wann denn der rechte Zeitpunkt zum Naseputzen ist? 

Handle ich adultistisch, wenn ich mein Kind zwar ernst nehme, aber es zwinge, abends die Zähne zu putzen, obwohl es das blöd findet? Handle ich adultistisch, wenn mein Kind auf den Arm will, ich aber vor lauter Kopfschmerzen lieber umfallen möchte, als einen tobenden Zweijährigen auf dem Arm haben? Handle ich adultistisch, wenn ich mein Kind so schnell wie möglich zum Bus schleife, weil ich den nicht verpassen möchte? Und wie ist es mit der nicht zu unterschätzenden Differenz zwischen Öffentlichkeit und Privatleben? In öffentlichen Verkehrsmitteln bin ich gestresster und an konformes Aussteigen gezwungen als auf dem Sofa. Sollte dennoch jemand die Moralkeule über meinem Kopf schwingen dürfen, wenn ich meinen Großen mit erhobener Stimme auffordere, jetzt endlich mal auszusteigen?

Sehr gern stehe ich mit in der ersten Reihe, wenn es darum geht, Kinder ernst zu nehmen. Unsere Krabbelstube der Wahl arbeitet nach Emma Pickler, und die hat meines Wissens nach nicht von Diskriminierung gesprochen sondern von einem die Entwicklung unterstützenden Umfeld.

Ich stehe auch in der ersten Reihe, wenn Gleichberechtigung zwischen Erwachsenen und Kindern angezweifelt wird! Wir können nicht gleichberechtigt sein! In Alltagssituationen gern! Ich freu mich drauf, mit unseren Kindern zu erträumen, auf was für eine Reise wir sparen möchten und ich finds cool, wenn sie mir sagen können, was sie aus unserem Angebot essen möchten. Aber ich möchte beispielsweise beim Kauf eines PKW nicht mit meinen Kindern über die Investition streiten, nur weil die Farbe doof ist.

Btw: Ist schonmal wem aufgefallen, dass in einem Team, wie es beispielsweise eine Familie darstellt, Grenzen ohnehin verwischen und Bedürfnisse ineinander übergehen? Können wir da ernsthaft abgrenzen? Sollten wir das können? Und wie ist es mit dem Slogan „junge Eltern müssen auch mal an sich denken? Ist der falsch, wenn die Kinder keinen Bock auf Sonntag mit Opa und Oma haben? Wie werden solche familiären Konflikte den adultismusfrei gelöst, bitte? Und wie bringe ich mein Kind unadultistisch ins Bett? Mein Großer hat selten Spaß am ins-Bett-gehen. Klar möchte er lieber im Wohnzimmer bleiben…von seinem Schlafbedürfnis weiß der junge Mann meiner Ansicht nach noch nichts.

Ganz ehrlich, ich finde das Label Adultismus hochgradig überflüssig, wenn nicht sogar gefährlich und ebenso sexistisch wie den ganzen anderen Erziehungs-Wahnsinn, der uns tagtäglich reingeblasen wird. Wo bleiben die notwendigen Grenzen, wenn ich meinem Kind als grundsätzlich gleichberechtigt entgegen trete? Wenn ich alles gleichberechtigt ausdiskutiere entstehen dabei keine natürlichen gleichberechtigten Menschen. Diese Verantwortung ist zu viel. Die Worte sind zu viel. Kein Kind will alles für und wieder abwägen. Kinder leben beispiellos den Moment und ihre Stimmung. Es kann so nicht gleichberechtigt neben der verantwortlichen Mutter stehen. Und das ist auch überhaupt kein Problem, denn Kinder vertrauen ihren Eltern und gehen davon aus, dass diese das Beste für sie wollen.  Ja wäre das nicht scharf, wenn sich daran mal die VerurteilerInnen ein Beispiel neben würden? Einfach mal davon ausgehen, dass es um das Beste geht und nicht um irgendwas moralisch unanständiges?

Unser Weg, die Stimme unserer Kinder trotz verweigerter Gleichberechtigung hörbar zu machen, ist der der Eltern als Verstärker. Wir kommunizieren im Sinne unserer Kinder. Wir härten nicht ab oder bringen bei oder geben vor. Wir begleiten unsere Kinder durch unseren Alltag, wägen tagtäglich ab, wann der kindlichen Neugier mehr Raum eingeräumt werden kann und wann wir das nicht zulassen können und befinden uns so im permanenten Hin-und Her zwischen unser aller Bedürfnisse. Das ist echt sehr anstrengend. Aber unser Weg. Mir ist absolut klar, dass es auch andere Wege gibt und dass diese Wege genauso gut sind! Jede Familie braucht ihre ureigene Idee darüber, wie die Team-Mitgleider zueinander stehen. Das wird dann eine Weile geübt und dann steht da plötzlich wirklich eine Einheit aus mindestens zwei Personen. 

Nein, nicht alle Familien sind hilfsbedürftig. Nein, nicht jede schreiende Mutter hat die Kontrolle verloren. Nein, Kinder verkraften es sehr gut, wenn sie nicht gleichberechtigt entscheiden dürfen aber dafür geliebt werden.

 

Ich hab noch so viele Sätze im Kopf. Allerdings sitze ich gerade ohnehin zum dritten Mal an diesem Beitrag und kann mir schlecht mehr Zeit nehmen. Ich bin irre dankbar für diese Inspirationen und die Möglichkeit, laut darüber nachzudenken. 

 

8 Antworten auf „„Du bist nicht gut genug“

  1. Ab morgen gibts doch bei Tchibo Bastelartikel. Da wird doch was für ein paar schöne Labels dabei sein…ich hätte gern ein Schildchen mit „Schreckschraube“ (ein wunderschönes Wort..) und eines mit „Ja/Nein/Vielleicht“…

  2. Danke für diesen Post, der mir mal wieder ganz aus der Seele spricht. Ich hatte den Artikel bei Umstandslos auch schon gelesen und war einigermaßen irritiert. Danke fürs Nachdenken und Aufschreiben und Mut haben und für die Klarheit. Herzlich, Momatka

    1. …ich hoffe jedes Mal, dass ich nicht jemandem böse auf die Zehen latsche. Und ich bin froh, wenn ich lesen kann, es gibt noch mindestens eine andere Person, die meine Ansicht teilen kann. 🙂
      Werd gesund!

  3. Danke für Dein Nachdenken.
    Man kann es auch wahrlich übertreiben mit dem ÜbersKindNachdenken und das Kind mitbestimmen lassen. Wie kann so ein Zwerg was bestimmen, von dem er nicht mal weiß, was es ist? Oder wie soll er eine Situation beurteilen können? Warum müssen wir denn die Kinder dermaßen überfordern??

    1. Berechtigte Frage. Mitbestimmung wo es geht, ist sicher sinnvoll, wenn auch nicht immer zwingend notwendig, wie ich finde. Aber ich muss mich nicht dafür anzweifeln, dass ich für das Kind grundsätzlich entscheide.
      Da beißt sich doch wieder alles in den Schwanz: wir wollen nicht von anderen verurteilt werden und schaffen nur Beurteilungsschubladen, anstatt andere zu lassen…

  4. Wie so oft bei diesem (oder ähnlichen Themen) wird Gleichberechtigung mit Gleichwertigkeit verwechselt.

    Natürlich ist ein Kind nicht gleichberechtigt – wie Du richtig sagst, kann es die Tragweite von Entscheidungen nicht verstehen und muss entsprechend von uns Eltern gelenkt werden. Aber es ist nicht richtig, dass Kinder per se damit überfordert sind – mein Kind kann sehr gut mit einer sehr weit gefassten Entscheidungskompetenz umgehen :-).

    Es spricht aber absolut nichts dagegen, ein Kind gleichwertig zu behandeln – das heißt, seine Bedürfnisse ernst zu nehmen und zu erfüllen, wann immer das möglich ist – aber das ist in unserer Gesellschaft kaum zu finden.

    Insofern kann ich dem Ausgangsartikel durchaus zustimmen (auch wenn er sprachlich etwas anstrengt).

    Viele Grüße!
    Danielle

    1. Ach gegen Bedürfnisbefriedigung hab ich ja auch nix. Das führt in aller Regel ja auch zu einem leiseren Familienleben. 😉
      Wie alt ist denn Dein Kind mit der weitgefassten Entscheidungskompetenz? Mein Großer wird gerade 2 und ich finde auch, dass er viel entscheiden darf…ich seh aber auch einige Grenzen, die ich für ihn und andere schützen möchte. Er kann beispielsweise gar nicht einschätzen, dass ein Kind, das neben ihm auf einem Podest steht, bös von dem Podest runterfallen kann. So gesehen Dienstag in der Krabbelstube. Mein Sohnemann hat sich entschieden, das Podest für sich haben zu wollen, ich musste einschreiten, er fands blöd uns überhaupt nicht nachvollziehbar (und ich hab keinen der Jungs runtergezogen, sondern nur laut „Stopp“ gerufen).

      Ich denke, wir sind uns alle einig, wenn es darum geht, Kinder ernst zu nehmen. Jetzt müssen nur noch wir Mütter uns mal gegenseitig ernst nehmen. 😉

      Danke für die Grüße und liebe Grüße zurück,

      Minusch

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