wechselseitige dehnung

Freitag, erster Mai. niemand hat am Feuer gesessen. viele Familien haben Arbeitsblätterberge in fertig und blöd sortiert. wir auch. ein paar Sachen haben wir jetzt gemeinsam gemacht…der Große hat dem Kleinen ein Suchsel fertig gestellt. ich habe mit ihm einen Baum angemalt. dazu lief Scotland Yard. auf dem Boden der Spielplan aufgefaltet, damit wir sehen, wo Betty, Benny und Buck Buff gerade in London rum fahren. zwischendurch Erinnerungen an den Triumph des Kleinen gestern Abend, als er uns als Mr. X entwischt ist. den Zettel mit seiner Route bewahrt er auf wie einen Schatz. wir haben den Zettel „Triumph-Bogen“ genannt.

gestern war ein unfassbarer Tag, der an vielen Stellen hätte kippen können. aber: der Tag ist ganz geblieben. und heil. und er hat meinem Großen die Möglichkeit gegeben, mit mir zu sprechen. über sein Vermissen. seine unverständliche Wut. seine Unsicherheit. und wie schwer es ihm fällt, ohne seine Klasse Schulaufgaben zu machen. er saß auf meinem Schoß und war ganz schwer und die Augen waren rot und ich kraulte ihm über den Rücken. Freunde…

die Kinder haben mit einem Schlag etwas, was wir ihnen als Pflicht ins Leben gegeben haben, womit sie sich arrangiert haben, verloren. etwas, was normal war. jetzt ist nur noch zuhause normal. sobald wir aus der Tür treten, sieht alles ganz harmlos aus, birgt aber mit einem Mal Gefahren. unsichtbare Gefahren. woher kommen die? woran erkennen wir sie? Freunde können gefährlich sein? echt? ich kann gefährlich sein? ein Glück erklärt Ralph Caspers alle Fragen zu Corona, aber beruhigt das? gibt es Handlungssicherheit beim Legospielen? oder im Park?

ich bin froh, dass meine Kinder nicht an sich zweifeln und dass ihre Erlebnisse ihnen gestattet haben, mit sich selbst lieb zu sein. ich kenne Kinder, die zur Selbstkritik neigen und sich jetzt schämen. die Angst ist ein ganz widerlicher Hebel, den wir da gerade bewegt haben, um unser Verhalten möglichst schnell anzupassen. ja, die Angst rettet uns auch. ein Glück haben wir Angst! aber sie verlangt eben einen hohen Preis.

wieviele Kinder haben gerade das level „allein zum Bäcker gehen und 5 Brötchen kaufen“ angefangen? mein Großer hatte sich gerade getraut, mit seinem besten Freund und dem Metall-Detektor in den Park hier zu gehen. der Kleine ossizilierte den ganzen Tag zwischen seinen vier Lieblingsfreunden und ich war so dankbar, dass alle in Rennweite wohnen und ich ihn gefahrlos flitzen lassen kann.

ich kenne auch Kinder, die ihren Eltern nicht vorbehaltlos vertrauen. Kinder, die eigentlich den ganzen Tag in der Schule verbringen. Eltern, die echt nicht kochen können. Familien, die kein digital Detox machen, weil sie ohnehin all das nicht nutzen, weil sie überzeugt davon sind, es nicht zu brauchen. Eltern, die sich die ganze Woche eigentlich kaum sehen und plötzlich nebeneinander am Küchentisch arbeiten müssen und merken, dass sie das so nie wollten. das vorher, das wollten sie, dafür haben sie gearbeitet und gekämpft. das jetzt nicht…

wovon mir alle Familien erzählen: Wut. Wut bei allen Familienmitgliedern. oder eher ein sehr schnell auflodernder Zorn, der echt Ruhe braucht, um wieder zu verrauchen. Kinder springen wie aufgezogen auf, weil der Bruder „falsch geguckt hat“. Mütter können nicht fassen, was da gerade wieder angeschafft wurde. Väter ringen um Rückzugsmöglichkeiten während die Kinder sie gnadenlos verfolgen. wenn dann für irgendeinen in der Familie das Handy klingelt, entsteht eine Wellen-Dynamik von Pausegefühl – Bedürfniserwachen – Panik – Wut…wie in einem Kreislauf. die einen forschen mit der Lupe nach, ob diese Stimmungsschwankungen eine depressive Episode anzeigt. die anderen ignorieren das und schlittern in die Frustration, die dann Scham auslöst, die dann wieder wütend macht.

und dann guckst Du kurz in Social Media rein und liest was von Chancen und neuen Büchern und Filmen und Ernährung und…wirst wütend! weil es offensichtlich genügend Menschen gibt, die sich den Tag mit Bücherkapiteln strukturieren und dann Online-Sushi-Kurse belegen, während die anderen um 5 aufstehen und nicht mal zu einer Tasse Kaffee kommen, weil um 5:15 schon der erste Schlafwandler in die Küche tappt, weil er einen Alptraum hatte.

na sicher liegen ganz viele Chancen darin, Zeit für seine Kinder zu haben! aber nicht per se in einer Pandemie, in der die Kinder komplett ihrer Handlungsfähigkeit beraubt werden. kein Klassenrat, mein Morgenkreis mit den anderen 20 Kindern. kein Toben über den Hof, Seilspringen und Rache üben für den wegtetitschten Radiergummi. kein Rumalbern beim Mittagessen in der Betreuung (Mama würde ausflippen, wenn wir sowas zuhause machen). kein Angeben mit den Geburtstagsgeschenken. wer bin ich, wenn mich niemand sieht? in der Schule bin ich der Schnellste. zuhause merkt das keiner.

und wieviele Erwachsene kennen den Begriff „Prokastination“? Autor*innen finden sich zusammen, um sich gegenseitig zu helfen, im Homeoffice nicht zu versacken. wie lange brauchen Erwachsene, um einen Modus zu finden, in dem sie im Büro gut arbeiten können? außerdem mochten die wenigsten Hausaufgaben und ausgerechnet DAS ist geblieben? von allem, worauf wir verzichten müssen, bleiben die Hausaufgaben? wer hat sich das denn ausgedacht?

als mein Kleiner bei Scotland Yard gestern gewonnen hat, hat er aufgeleuchtet. ich weiß, dass er gegen seine Freunde oft gewinnt (weil er echt gut schummeln kann ;-)). und dass ihm das was bedeutet. gewinnen. erster sein. etwas am besten können. nur, wenn er sich mit seinem älteren Bruder oder seiner Mama misst, dann, naja, wird er oft traurig. oder wütend. deswegen braucht er auch gerade Zeit zum Zocken, weil er da Kontrolle über seinen Erfolg hat. es tut ihm gut, wieder einen Geisterboss erledigt zu haben, während sein großer Bruder in Minecraft eine Meeresschildkröten-Auffangstation baut. oder Serien wiederholt durchgucken und sich über die Doofheiten mancher Figuren amüsieren.

wir Eltern können nicht einfach begleiten, was unsere Kinder tun. wir müssen eine neue Routine entwickeln. das, was wir sonst gemeinsam mit Erzieher*innen oder Lehrer*innen über Jahre aufbauen, machen wir jetzt mal eben alleine. während wir neue Lösungen für unsere berufliche Situation entwickeln. und während wir mittags für Mittagessen sorgen, was unsere Einkaufsroutinen verändert hat (während die Lebensmittelpreise definitiv angestiegen sind). und in dem Zustand stoßen wir auf unsere Kinder, die sonst Energien außerhalb der Wohnung ablassen konnten.

ich wurde gefragt, ob die Wut vielleicht gerade schon Pubertät sein könnte bei einem Kind zwischen 12 und 13. möglich. aber wahrscheinlicher ist was anderes. eher ein Schritt zurück, abhängig davon, wieviel die Eltern mitbekommen und abfangen können. ein Schritt zurück ist nichts Schlimmes angesichts einer so grundlegenden Veränderung. wir müssen da sein. gerade dann.

wusstet ihr, wie schön die Häuser werden, wenn ein Kind zwei Stunden in Minecraft daran arbeiten kann? dass WhatsApp-Video-Calls auch zu dritt funktionieren? dass Kinder über das Telefon mit einem Freund eines seiner Hörspiele hören können? oder Lego bauen? oder dass LetsPlays in YouTube echt ne Menge Handwerkszeug für die Spiele bieten? dass Mai Cocopelli einmal die Woche eine Kindersendung streamt, in der auch gebastelt und getanzt werden kann? dass es Meditationsspiele gibt?

und dass es hilft, den Atem als Grundlage zu nehmen und als Minimum festzusetzen? Atmen. in der Wut. in der Scham. an der Supermarktkasse. zum Einschlafen. vor dem Kaffee. auf dem Klo. Atmen. so, als würdet ihr einen Spiegel anhauchen. so, dass es an die Brandung an einem windstillen Sommertag erinnert. oder an Füße, die sich unter eine frische Bettdecke strecken. oder an das versinken in einer Umarmung. Atmen. nichts sonst. kein Anruf, kein Essen, kein sortieren. Atmen.

wir üben Nachsicht miteinander. mit der Wut jedes einzelnen von uns. irgendwo müssen die Gefühle hin. und besser raus als rein. Gewitter reinigen doch auch die Luft. wir lernen ohnehin immer. also Scham freundlich in ein Papierboot setzen und mit dem Atem davon fahren lassen. ihr noch nachwinken und Auf Wiedersehen nachrufen. wir werden sie wiedersehen. ach, Scham, ja, ich erinnere mich an Dich. Du hattest mir doch den letzten Sommer vergällt, als ich mich nicht getraut habe, bei unseren Freunden anzurufen, weil mein Kind echt mal raus muss. Du warst doch die, die mich am Schwimmen-gehen gehindert hat damals. ach, was war ich jung. und, schau, durch Dich habe nie die Ausbildung gemacht, die ich machen wollte. eieiei…das passiert mir heute nicht mehr.

Liefs,

Minusch

Eine Antwort auf „wechselseitige dehnung

  1. Danke für diesen Text von Dir. Finde mich in ganz vielem wieder. Statt online-Sushi-Kurs auch bei mir Tage, an denen ich kaum dazu komme, eine Viertelstunde still zu sitzen. Und ein Pubertierender, dem alles weggenommen wurde, was er gerade an Kontakt zu anderen für sich entdeckt hatte. Ja, wie lange noch? … Viel Kraft Euch. Liebe Grüße von Greta

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